Pilotprojekt in zehn Wiener Apotheken
Medikationsanalyse: „Alle haben etwas davon – Dachverband, Patienten, Apotheker & Ärzte“
Am 1. Juni startete in zehn Wiener Apotheken eine Pilotstudie zur Medikationsanalyse – wissenschaftlich begleitet von der MedUni Wien. Der Dachverband der Sozialversicherungen habe sich zur Finanzierung überzeugen lassen, gewährt Apothekerkammer-Vizepräsident Mag. Raimund Podroschko einen spannenden Blick hinter die Kulissen. Mit dem Argument, dass alle davon profitieren könnten, was der Dachverband auf Anfrage bestätigt. Wenn die Studienergebnisse passen, starten die Gespräche für eine österreichweite Ausrollung. Die Apotheker zeigen sich jedenfalls vorbereitet. Auch ein Masterstudium für klinische Pharmazie sei „im Gespräch“.
Pharmaceutical Tribune: Herr Vizepräsident, wie läuft eine typische Medikationsanalyse ab?
Mag. Raimund Podroschko: Bei der Medikationsanalyse vom Typ 2a geht es darum, dass die ärztlich verordnete Therapie wie von diesen intendiert bei den Patienten ankommt. Wir Apothekerinnen und Apotheker verfolgen dabei drei Ziele: die ärztliche Therapie zu unterstützen, die Gesundheitskompetenz der Patienten zu steigern sowie die Nebenwirkungen und Wechselwirkungen zu minimieren.
Was erachten Sie dabei als die wichtigsten Vorteile und warum sind gerade Apotheken dafür prädestiniert?

Mag. Raimund Podroschko
Österreichs Apothekerinnen und Apotheker sind Top-Experten, wenn es um Arzneimittel und deren sichere Anwendung geht. In der Apotheke liegen bei Einwilligung von Patienten sowohl die Daten aus ELGA als auch die Stammkundendaten aus den Privatverkäufen vor. Deshalb sind Apotheken die ideale Anlaufstelle für umfassende Arzneimittelberatungen. Als wohnortnaher Gesundheitsdienstleister bieten wir ein niederschwelliges Beratungsangebot ohne lange Wartezeiten.
Können Sie kurz die Vorgeschichte umreißen, wie es zu dem Pilotprojekt, das am 1. Juni startete, gekommen ist?
Wir sind seit einigen Jahren in engem Austausch mit dem Dachverband der Sozialversicherungsträger. Seit 2017 laufen Gespräche mit dem Ziel, die Medikationsanalyse praktikabel in jeder Apotheke zu verankern. Dabei wurde klar, dass das Ziel die Unterstützung der ärztlichen Therapie sein muss. Wir haben uns Projekte und Umsetzung der Medikationsanalyse in zahlreichen anderen Ländern angesehen und von den bestetablierten Modellen gelernt. Um für große Akzeptanz zu sorgen, haben wir von Anfang an den Dachverband an Bord geholt und, nachdem die Vorarbeiten abgeschlossen waren, auch die MedUni Wien als Partner gewonnen. Gemeinsam haben wir die Entscheidung getroffen, dass wir die Vorteile der Medikationsanalyse im Rahmen einer Studie untersuchen wollen. Wir arbeiten mit Dr. Christian Schörgenhofer, dem medizinischen Leiter der Studie, eng zusammen (Institut für Klinische Pharmakologie, Medizinische Universität Wien, Anm. d. Red.). Im Sinne der Patientensicherheit ist eine enge Kooperation mit den Ärzten in Zukunft sehr wichtig.
Welche Apotheken nehmen an der Pilotstudie teil, wie wurden die Apotheken ausgewählt und wie wurden die Patienten rekrutiert?
Zehn Wiener Apotheken nehmen an der Studie teil, die zusammen mit der MedUni Wien umgesetzt wird. Wichtige Auswahlkriterien waren unter anderem eine flächendeckende Verteilung der Standorte über das gesamte Stadtgebiet und dass die Apothekenleitung hinter der Studie beziehungsweise der Analyse steht. Idealerweise haben der Konzessionär/die Konzessionärin und mindestens einer der Mitarbeiter die Ausbildung zur Medikationsanalyse.
Die teilnehmenden Apotheken gehen aktiv auf Patienten mit Polymedikation zu und informieren in Aushängen über die Studie. Einschlusskriterium ist, dass jemand acht oder mehr Arzneimittel einnimmt.
Wie sieht das Design der Studie aus?
Die Studie hat insgesamt 200 Teilnehmende, die randomisiert in eine Interventionsgruppe und in eine Kontrollgruppe unterteilt werden. In der Kontrollgruppe findet ausschließlich eine Statuserhebung zur Ermittlung der arzneimittelbezogenen Probleme statt, die Interventionsgruppe erhält zusätzlich eine Medikationsanalyse.
Nach drei bis vier Monaten findet erneut eine Statuserhebung statt, um den Fortschritt in den beiden unterschiedlichen Gruppen zu ermitteln. Freiwillig können alle Studienteilnehmenden nach diesem zweiten Termin eine (erneute) Medikationsanalyse durchführen, die nach weiteren drei bis vier Monaten ausgewertet wird.
Wie haben Sie den Dachverband der Sozialversicherungsträger dazu gebracht, Kooperationspartner zu werden und die Medikationsanalyse zu finanzieren (siehe auch Kasten mit den Statements vom Dachverband)?
Aus internationalen Studien ist bekannt, dass die Medikationsanalyse die Patientensicherheit steigert und zu Einsparungen im Gesundheitswesen führt. Der Dachverband hat Interesse gezeigt, diese Daten auch in einem einzigartigen Studiendesign in Österreich zu erheben. Zahlreiche Sitzungen und unsere Hartnäckigkeit haben sich ausgezahlt. Wir konnten davon überzeugen, dass alle etwas von der Medikationsanalyse haben. Der Dachverband profitiert, weil durch wirksame Therapien und vermeidbare, arzneimittelbezogene Probleme Kosten gesenkt werden. Die Patienten profitieren, weil ihre Gesundheitskompetenz gesteigert wird. Die Apotheker, weil sie ihrem ureigensten Aufgabenbereich nachgehen können, der Arzneimittelberatung. Die Ärzte profitieren, weil ihre wohlüberlegte Therapie genau so umgesetzt wird, wie sie erarbeitet wurde.
Was erhoffen Sie sich von der Studie, die bis Mai 2024 läuft? Oder anders formuliert: Welche Endpunkte müssen mindestens erreicht werden, damit die Medikationsanalyse tatsächlich flächendeckend auf alle Apotheken in Österreich ausgerollt werden kann und die Honorierung von der Sozialversicherung übernommen wird?
Wir wollen mit der Studie betätigen, dass die Medikationsanalyse zu einer Verbesserung für das Gesundheitssystem und für die Patienten führt. Viele Studien und praktische Erfahrungen, zum Beispiel aus den USA oder aus Deutschland, haben das bereits eindrucksvoll gezeigt. Primärer Endpunkt ist die Verringerung der arzneimittelbezogenen Probleme durch die Medikationsanalyse. Die weiterführende Honorierung wird in zahlreichen Gesprächen mit dem Dachverband zu klären sein.
Wie gut sind die Apothekerinnen und Apotheker auf die Medikationsanalyse vorbereitet, wie viele haben eine entsprechende Fortbildung?
Die Apothekerinnen und Apotheker sind startklar. Die Österreichische Apothekerkammer bietet einen umfassenden Basiskurs an, um bei einer Übernahme der Kosten durch die Sozialversicherung sofort agieren zu können. Alleine diese Weiterbildung haben rund 1.000 Apothekerinnen und Apotheker absolviert. 120 Absolventen hat der postgraduale Zertifikatskurs an der Universität Wien. Aufgrund des hohen Interesses für klinische Pharmazie und Medikationsanalyse gibt es in diesem Bereich zahlreiche Aus- und Weiterbildungen, in Österreich wie auch international. Außerdem ist ein Masterstudium für klinische Pharmazie ist im Gespräch.
Herzlichen Dank für das Interview!
Was sich die Sozialversicherung von der Medikationsanalyse erwartet
Die Redaktion stellte zwei Fragen an den Dachverband der österreichischen Sozialversicherungsträger:
Was war der Auslöser dafür, dass die Sozialversicherung nun doch – nach vielen Jahren – ein derartiges Pilotprojekt zur Medikationsanalyse finanziert?
Das nun vorliegende Konzept zur Medikationsanalyse stellt den ersten Schritt des bisher von der Apothekerkammer propagierten Medikationsmanagements dar. Mit der Medikationsanalyse könnten Versicherte, die von Polypharmazie betroffen sind, einen niederschwelligen Zugang zu einer weiteren Beratung erhalten. Positive Effekte könnten in einer gesteigerten Adhärenz und Health Literacy sowie der Vermeidung von Arzneimittelmüll liegen. Um diese möglichen Effekte zu messen, unterstützt der Dachverband der Sozialversicherungsträger dieses Pilotprojekt.
Kann sich der Dachverband bei entsprechenden Ergebnissen tatsächlich eine bundesweit flächendeckende Finanzierung vorstellen?
Ziel des Pilotprojekts ist eine Evaluierung des vermuteten Nutzens der Medikationsanalyse auf wissenschaftlicher Basis. Aus Sicht des Dachverbands gilt es jetzt die Ergebnisse abzuwarten und darauf aufbauend die weitere Vorgehensweise mit den Stakeholdern zu diskutieren.