Medikationsanalyse: Neuropathischer Schmerz
MEDIKATIONSANALYSE – TEIL 11 – Ein 75-jähriger Patient mit Diabetes wird auf die neurologische Station aufgenommen. Er gibt an, einen brennenden und kribbelnden Schmerz auf den Fußsohlen zu verspüren. Er hat schon vieles probiert inklusive B-Vitamin Präparaten und Lokaltherapie mit rezeptfreien Gelen, nichts hat geholfen. Im Rahmen des Aufenthalts wird eine diabetische Polyneuropathie diagnostiziert. Ist die aktuelle Therapie für ihn angemessen?
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Ein 75-jähriger Patient mit Diabetes wird auf die neurologische Station aufgenommen. Er gibt an, einen brennenden und kribbelnden Schmerz auf den Fußsohlen zu verspüren. Er hat schon vieles probiert inklusive B-Vitamin Präparaten und Lokaltherapie mit rezeptfreien Gelen, nichts hat geholfen. Im Rahmen des Aufenthalts wird eine diabetische Polyneuropathie diagnostiziert. Ist die aktuelle Therapie für ihn angemessen?
Die Therapie bei Aufnahme umfasst folgende Medikamente:
Metformin 500mg | 1-0-1 |
Tramadol 100mg ret. | 1-0-1 |
Lisinopril 10mg | 1-0-0 |
Neurobion® forte Drg. | 1-1-1 |
Novalgin Tr. | 30 Tropfen bei Bedarf (max 4x tgl) |
Die Diagnosen des Patienten:
Diabetes Mellitus Typ 2 | Hypertonie |
CKD Grad 3 (aktuelle GFR = 53ml/min) | Neu: Diabetische Polyneuropathie |
Hinweise: Die im Fall angeführten Fertigarzneimittel wurden wertfrei für die enthaltenen Wirkstoffe bzw. -kombinationen ausgewählt. Die genannten Produkte stehen damit für alle vergleichbaren Präparate. Bei den Fallbeispielen handelt es sich um Lehrbeispiele, die möglichst praxisnah formuliert wurden. Es besteht daher keinerlei Abklärungsbedarf hinsichtlich einer allfälligen Pharmakovigilanzmeldung.
Lerntext
1. Definition:
Neuropathischer Schmerz entsteht durch eine Läsion oder Schädigung des somatosensorischen Systems, das für die Wahrnehmung von Sinneseindrücken zuständig ist. Die Ursachen können vielfältig sein. Je nach zugrunde liegender Erkrankung unterscheidet man beispielsweise zwischen diabetischer Polyneuropathie, Post-Zoster Neuralgie, Trigeminusneuralgie, Phantomschmerz, medikamentös induzierter Polyneuropathie (zB. durch Chemotherapeutika, Antibiotika wie Isoniazid, Nitrofurantoin oder Metronidazol, Disulfiram oder antiretrovirale Substanzen) oder Neuralgien durch Toxine wie Alkohol.
Neuropathischer Schmerz ist aufgrund der unterschiedlichen Ätiologie, Symptome und Entstehung sehr schwer zu behandeln. Er kann intermittierend, dauerhaft, spontan oder nach Provokation auftreten. Bei der Ausprägung unterscheidet man zwischen „negativer“ und „positiver“ Symptomatik. Negative Symptome, wie Taubheit sprechen typischerweise nicht auf die medikamentöse Therapie an. Positive Ausprägungen umfassen kribbelnde, stechende, einschießende, elektrisierende, brennende Schmerzen und Überempfindlichkeit. Positive Symptome sind medikamentös therapierbar.
2. Medikamentöse Therapie:
Bei der Therapie der neuropathischen Schmerzen muss in Betracht gezogen werden, dass völlige Schmerzfreiheit oft nicht erreichbar ist. Mögliche Therapieziele sind daher:
- Verbesserte Schlafqualität
- Verbesserte Lebensqualität
- Schmerzreduktion
- Verbesserte Funktionialität
- Erhalten der Arbeitsfähigkeit/des sozialen Lebens
Beachtet werden sollte auch, dass bei vielen Medikamenten die Dosis langsam gesteigert werden sollte und die Wirkung verzögert einsetzt. Das sollte dem Patienten unbedingt mitgeteilt werden um die Adhärenz zu erhöhen. Oft ist eine Kombination aus mehreren Medikamenten wirkungsvoller.
2.1 Therapiemöglichkeiten der 1. Wahl:
Gabapentin und Pregabalin
Medikamente der ersten Wahl sind die Antikonvulsiva Gabapentin und Pregabalin. Ihr antikonvulsiver und schmerzstillender Wirkmechanismus ist nicht genau geklärt, beide binden mit hoher Affinität an die alpha-2-delta Untereinheit spannungsabhängiger Kalziumkanäle.
Das etwas wirksamere und meist besser verträgliche Pregabalin wird bei neuropathischen Schmerzen in Dosen von 150mg aufgeteilt auf zwei oder drei Einzeldosen gegeben und kann bis auf 600mg/Tag gesteigert werden. In Einzelfällen wird noch vorsichtiger titriert um Nebenwirkungen wie Sedierung zu reduzieren. Weitere Nebenwirkungen umfassen Ataxie, Schwindel, Benommenheit, Sehstörungen, Magen-Darm Beschwerden und periphere Ödeme.
Gabapentin wird dreimal täglich verabreicht und die Dosis wird ebenfalls auftitriert. Die wirksame Dosis liegt zwischen 900 und 3600mg/Tag. Das Nebenwirkungsspektrum von Gabapentin ähnelt Pregabalin, wobei Pregabalin üblicherweise etwas nebenwirkungsärmer ist.
Sowohl für Gabapentin als auch Pregabalin sind keine pharmakokinetischen Wechselwirkungen bekannt. Pharmakodynamisch verstärken sie die Effekte von Opioiden und können in dieser Kombination zu erhöhter Sedierung und Atemdepression führen. Weiters gilt es zu beachten dass beide Substanzen mit einem gewissen Missbrauchspotential vergesellschaftet sind und vor allem bei Patienten mit vorbekannter Opioid Abhängigkeit nur mit größter Sorgfalt eingesetzt werden sollten. Eventuell ist in solchen Fällen Gabapentin zu bevorzugen, da die Absorption im Gegensatz zu Pregabalin sättigbar ist und Gabapentin im Fall einer Überdosis dadurch weniger toxisch ist.
Beide Arzneimittel sind an die Nierenfunktion anzupassen, bei Gabapentin bereits bei einer Kreatinin Clearance von weniger als 80ml/min, bei Pregabalin unter 60ml/min. Eine weitere Gemeinsamkeit ist die Empfehlung, die Arzneimittel auszuschleichen und nicht abrupt abzusetzen.
Duloxetin
Eine weitere Therapie der ersten Wahl ist Duloxetin, ein selektiver Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer. Die schmerzstillende Wirkung tritt wahrscheinlich durch eine Verstärkung der absteigenden hemmenden Schmerzbahnen ein. Bei neuropathischen Schmerzen ist Duloxetin in den Dosierungen von 60 bis 120mg pro Tag wirksam. Die häufigsten Nebenwirkungen umfassen Übelkeit, Schwindel, Kopfschmerzen und Mundtrockenheit, Agitiertheit und Akathisie.
Duloxetin ist ein moderater CYP2D6 Hemmer und interagiert dadurch mit vielen Beta-Blockern, Risperidon und trizyklischen Antidepressiva wie Amitriptylin, Imipramin und Nortriptylin. In Kombination mit Tramadol wird Tramadol in geringerem Ausmaß in seinen aktiven Hauptmetaboliten umgewandelt, was die schmerzstillende Wirkung reduzieren kann. Duloxetin ist selbst ein CYP1A2 Substrat wodurch es bei Rauchern durch Enzyminduktion zu niedrigeren Blutspiegeln und in Kombination mit CYP1A2 Inhibitoren wie Ciprofloxacin zu erhöhten Blutspiegeln kommen kann. Pharmakodynamisch kann Duloxetin mit anderen serotonerg wirkenden Arzneimitteln zu einem Serotonin Syndrom führen, mit Antikoagulantien und Antithrombotika erhöht es die Blutungsgefahr.
Trizyklische Antidepressiva
Auch trizyklische Antidepressiva werden in den Leitlinien als Medikation der ersten Wahl genannt, wobei in Österreich nur Amitriptylin für neuropathischen Schmerz zugelassen ist. Trizyklische Antidepressiva hemmen sowohl die Serotonin und Noradrenalin Wiederaufnahme, zusätzlich werden Natrium-, Kalium- und NMDA-Ionenkanäle gehemmt.
Wichtig ist es vor allem bei älteren Patienten mit sehr niedrigen Dosen von 25 bis 50mg zu starten, und individuell die Dosis zu steigern. Auch gilt es die Kontraindikation und Nebenwirkungen zu bedenken, die gerade bei älteren Patienten oft zu Problemen führen. Besonders zu erwähnen sind hier zentrale und periphere anticholinerge Nebenwirkungen, Sedierung, erhöhtes Delir- und Sturzrisiko und kardiale Nebenwirkungen. Da Amitriptylin ein CYP2D6 Substrat ist, interagiert es mit starken CYP2D6 Inhibitoren und Induktoren. Pharmakodynamisch verstärkt es die Wirkung von Anticholinergika und Arzneimitteln die das Qtc-Intervall verlängern und kann die Wirkung zentral wirksamer Antihypertensiva reduzieren.
2.2 Therapiemöglichkeiten der 2. Wahl
Capsaicin lokal
Die lokale Capsaicin Anwendung zählt zu den Mitteln der zweiten Wahl und kann bei peripheren neuropathischen Schmerzen jeglicher Ursache angewendet werden. Bis zu 4 Pflaster werden auf das schmerzhafte Areal aufgeklebt und zwischen 30 und 60 Minuten auf der Stelle belassen. Um Schmerzen während der Behandlung zu reduzieren, kann mit einem Anästhetikum oder oralen Analgetika vorbehandelt werden. Die schmerzlindernde Wirkung beruht wahrscheinlich auf einer Aktivierung von kutanen Nozizeptoren, wodurch diese weniger empfindlich auf Reize reagieren.
Nebenwirkungen treten hauptsächlich lokal auf und umfassen Brennen, Schmerzen, Erythem und Pruritus an der Applikationsstelle.
Lidocain Pflaster
Auch die lokale Anwendung von Lidocain zählt bei lokalisierten neuropathischen Schmerzen zur zweiten Wahl, wird aber bei Post-Zoster Neuralgie zu den Therapien der ersten Wahl gezählt.
Durch die Pflastermembran wird Lidocain über einen längeren Zeitraum gleichmäßig freigesetzt und führt durch eine Natriumkanal Blockade zum analgetischen Effekt. Das Pflaster wird für 2-4 Wochen einmal täglich für 12h auf die betroffenen Areale geklebt, anschließend wird der Therapierfolg bewertet. Bei einer Langzeitanwendung kann der Bedarf an Behandlungen abnehmen, weshalb die Therapie regelmäßig evaluiert werden soll.
2.3 Therapiemöglichkeiten der 3. Wahl
Opioide
Opioid Analgetika sind bei neuropathischem Schmerz wirksam, werden aber aufgrund des Nebenwirkungsspektrum und der Toleranzentwicklung bei Gabe über einen längeren Zeitraum nur als Medikation der dritten Wahl empfohlen. Das gilt sowohl für stark wirksame Opioide wie Oxycodon und Hydromorphon, als auch für das für diese Indikation häufig verwendete schwache Opioid Tramadol. Das Besondere an Tramadol ist die duale Wirkung aus Agonismus am Opioid Rezeptor und Serotonin- und Noradrenalin- Wiederaufnahmehemmung. Aufgrund dieses Wirkmechanismus wird Tramadol in der Nationalen Versorgungsleitlinie, die gerade neu überarbeitet wird, noch als erste Wahl genannt, falls Opioide indiziert sind.
Botulinumtoxin:
Botlulinumtoxin hemmt die Freisetzung von Acetylcholin an der neuromuskulären Endplatte wodurch es einen lähmenden Effekt hat. Üblicherweise wird es bei Spastiken eingesetzt. Bei Neuropathien scheint der schmerzstillende Effekt über eine verminderte Freisetzung von Entzündungsfaktoren vermittelt zu sein. Aufgrund der geringen Datenlage wird es allerdings nur als Therapieoption der dritten Wahl für lokal begrenzte Neuropathien empfohlen. Es handelt sich um eine Off-Label Therapie und sollte nur in spezialisierten Zentren zum Einsatz kommen.
2.4 Weitere Arzneimittel
Alpha-Liponsäure wird auf Grund der geringen Datenlage nicht generell bei Neuropathien empfohlen, intravenös könnte es einen positiven Effekt auf die diabetische Polyneuropathie haben.
In Einzelfällen können noch Carbamezepin und Oxcarbazepin in Betracht gezogen werden, es wird allerdings auf Grund der heterogenen Datenlage bezüglich Wirksamkeit und des ungünstigen Nebenwirkungsprofils nicht allgemein empfohlen. Lamotrigin kann ebenfalls in Einzelfällen off-Label bei bestimmten Neuropathien zum Einsatz kommen. Für nicht-opioide Analgetika wie NSAR, Paracetamol oder Metamizol gibt es keine Evidenz bezüglich Wirksamkeit, weshalb sie laut S2k Leitlinie von 2019 nicht zur Therapie neuropathischer Schmerzen geeignet sind. Die Nationale Versorgungsleitlinie von 2016 erlaubt hingegen einen zeitlich begrenzten Therapieversuch mit Metamizol oder Paracetamol trotz der widersprüchlichen Datenlage.
3. Diabetische Polyneuropathie:
Beim Typ-1 Diabetes ist klar nachgewiesen dass eine gute Blutzuckereinstellung das Risiko minimiert, eine Polyneuropathie zu entwickeln. Für Typ-2 Diabetes ist die Datenlage heterogen, trotzdem gibt es Hinweise dass eine angemessene Diabeteseinstellung Vorteile bietet. Daher sollte die Intensität der medikamentösen Diabetes Therapie nach individuellem Risikoprofil erfolgen.
4. Nicht medikamentöse Therapie
Die wichtigste nicht medikamentöse Therapie ist die Prävention und Lebensstilanpassung inklusive Rauchstopp, diabetesgerechter Ernährung, Bewegung und eingeschränktem Alkoholkonsum. Weiters ist eine adäquate und leitliniengerechte Schuhversorgung empfohlen, wenn die Polyneuropathie an den Füßen auftritt.
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